09 - Der Mensch als motivierter Taktiker
Motive beeinflussen die Art und den Inhalt der sozialen Informationsverarbeitung („thinking is for doing"; Fiske, 1992).
1. Zugehörigkeit: von anderen Menschen und seiner Gruppe akzeptiert werden („to belong") 2. Verstehen: die Welt verstehen, eine sozial geteilte Interpretation der Welt erreichen („to understand") 3. Kontrolle: Einfluss haben auf Ereignisse, die auch von anderen abhängen („to be effective") 4. Selbsterhöhung: das eigene Selbst positiv sehen („to maintain self-esteem") 5. Vertrauen: in eine freundliche soziale Umwelt vertrauen („to find the world benevolent")
Theorie der kognizierten Kontrolle (Osnabrügge et al., 1994)
1. Kontrollmotivation: Personen sind bestrebt, Zustände und Ereignisse in sich selbst und ihrer Umwelt kontrollieren zu können. 2. Folgen von Kontrollverlust und Kontrolle: Bemerkt eine Person, dass sie für sich bedeutsame Ereignisse oder Zustände nicht kontrollieren kann, so beeinträchtigt dies ihr Erleben und Verhalten. Die Wahrnehmung von Kontrollmöglichkeiten über aversive Ereignisse reduziert dagegen den durch diese hervorgerufenen Stress. 3. Mögliche Formen kognizierter Kontrolle: ◦ Beeinflussbarkeit (Verhaltenskontrolle) ◦ Vorhersehbarkeit (Informationskontrolle; zeitlich, inhaltlich) ◦ Kognitive Kontrolle (= kognitive Strukturierung) ◦ Retrospektive Kontrolle (= Erklärbarkeit) 4. Die Art und Stärke der Reaktion auf Kontrollverlust hängt ab: ◦ von der subjektiven Bedeutsamkeit des nicht zu kontrollierenden Ereignisses oder Zustands ◦ von der Sicherheit der Überzeugung, keine Kontrolle ausüben zu können ◦ davon, auf welche Ursachen der Kontrollverlust zurückgeführt wird.
Theorie psychologischer Reaktanz (Brehm, 1966, 1972)
1. Personen glauben an die Freiheit, bestimmte Verhaltensweisen ausführen zu können. 2. Freiheit kann durch die handelnde Person (P) selbst (selbstauferlegte Freiheitseinengung), durch andere (sozialer Einfluss) oder durch unpersönliche Barrieren eingeschränkt werden. Wenn P bemerkt, dass eine "freie" Verhaltensweise bedroht oder unmöglich gemacht wird, entsteht psychologische Reaktanz. 3. Reaktanz ist ein aversiver motivationaler Zustand. Die Stärke der Reaktanz ist eine Funktion ◦ der Wichtigkeit der spezifischen Freiheit für P ◦ des Umfanges des Freiheitsverlustes (z.B. Anzahl der bedrohten Alternativen) und ◦ der Stärke der Einengung ( z.B. Ausmaß der Auswirkungen auf andere Freiheiten). 4. Versuche zur Wiederherstellung der Freiheit können sich äußern in subjektiven Effekten (kognitive Umstrukturierungen) und Verhaltenseffekten (Aktionen). Dazu gehören ◦ direkte Wiederherstellung der Freiheit, z.B. durch instrumentelle Aggression ◦ indirekte Wiederherstellung der Freiheit, z.B. durch ◦Attraktivitätserhöhungderbedrohten/eliminiertenAlternative ◦ AusführungähnlicherVerhaltensweisen ◦AusführungdesVerhaltensinanderenSituationen ◦AusführungdesVerhaltensdurchanderePersonen ◦gesteigerterunspezifischeAggressivität
Informationaler sozialer Einfluss
Als die Versuchspersonen bis zu einem Jahr später erneut zur individuellen Testung wiederkamen, zeigte sich nach wie vor ein Einfluss der vorherigen Einschätzungen ihrer Gruppe. Erweiterung: Weitergabe über „Generationen" (Jacobs & Campbell, 1961) ◦ Ein Konföderierter gibt eine übertriebene Schätzung an. ◦ Wird dann ausgetauscht mit einer echten Versuchsperson, die dann wiederum ausgetauscht wird usw. ◦ Der Einfluss der übertriebenen Schätzung bliebt... ◦ und überdauerte fünf "Versuchspersonen-Generationen". Erklärung: Wir sind motiviert, korrekt wahrzunehmen, und die Meinungen anderer Personen sind eine wichtige Informationsquelle, die wir dafür nutzen können. Ist insbesondere der Fall, wenn die Situation uneindeutig ist (wie bei Sherifs Experiment) und wenn andere Experten sind.
Normativer sozialer Einfluss
Anpassung an Mehrheitsmeinung, ◦ um gemocht und sozial anerkannt zu werden ◦ um Zurückweisung zu vermeiden ◦ um in der Gruppe bleiben zu können (Aschs Linienexperiment) Führt eher zu oberflächlichen Anpassungen, nicht notwendigerweise zur Internalisierung (private Meinung kann bestehen bleiben).
2. Motiv: Verstehen
Bedürfnis nach Verstehen der Welt und sozialer Bestätigung der eigenen Sichtweisen Sozial geteilte Interpretation macht die Welt vorhersehbarer, so dass man sich besser an antizipierte Ereignisse anpassen kann. Sherifs „autokinetischer Effekt"
"Do Not Eat the Red Food!" (Jansen, Mulkens, & Jansen, 2007)
Führt das Verbot bestimmter Snacks zu einem erhöhten Wunsch nach diesem Snack? Coverstory: Experimentator handelt im Autrag einer Süßigkeitenfabrik. Dort werden neuartige Süßigkeiten entwickelt und die Entwickler interessieren sich für die Bewertung existierender Süßigkeiten durch Kinder. Versuchspersonen: 5 and 6 Jahre alte Kinder aus niederländischen, belgischen und deutschen Grundschulen (N = 74) UV: ◦ Verbot (roter M&Ms) vs. kein Verbot AVs (u.a.): ◦ Wunsch nach den roten Snacks ◦ Anteil der konsumierten roten Snacks
Einfluss von Majoritäten: Linienexperiment (Asch, 1951)
Fragestellung: ◦ Lässt sich der Einfluss von Gruppennormen bei objektiv eindeutigen Urteilen nachweisen? Aufgabe der Vpn: ◦ Vergleich von Linien mit Standardreiz mit anschließender Beurteilung der Länge der Linien Setting: ◦ Gruppe von 7-9 Personen (nur eine echte Vpn, die als vorletztes ihr Urteil abgibt) ◦ 18 Durchgänge, davon 12 mal falsche Antwort durch Gruppe Ergebnis: ◦ 76% der 123 Vpn gaben mindestens eine falsche Antwort ◦ 50% gaben mindestens 6 mal die falsche Antwort ◦ durchschnittliche Fehlerzahl: 33% ◦ Kontrollgruppe (Vpn gab Einschätzung alleine ab): 0.7% Fehler Moderatoren: ◦ Privatheit/Anonymität der Antwort ◦ Abweichler in Majorität ◦ Gruppengröße
Ergebnisse
Hypothese 1. Der Wunsch nach dem roten Snack steigt in der Verbotsgruppe gegenüber der Vergleichsgruppe an. ◦ Ergebnis: Wunsch nach roten M&Ms steigte in der Verbotsbedingung signifikant an, aber nicht in der Kontrollbedingung. Hypothese 2. Kinder in der Verbotsbedingung konsumieren hinterher mehr rote (verbotene) vs. gelbe Snacks als Kinder in der Vergleichsgruppe. ◦ Ergebnis: Kinder in der Verbotsbedingung konsumierten einen größeren Anteil roter M&Ms (M = 0.61, SD = 0.18) als Kinder in der Kontrollbedingung (M = 0.50, SD = 0.19).
Der soziale Denker als motivierter Taktiker
Informationsverarbeitung variiert von automatischem, unbewusstem Denken (kognitiver Geizhals/Faulpelz) bis zu kontrolliertem, bewusstem Denken (Laien-/Alltagswissenschaftler).
5. Motiv: Vertrauen in freundliche Umwelt
Menschen erwarten grundsätzlich Positives von anderen. Negatives fällt auf, vor dem Hintergrund einer positiven Baseline. Pollyanna principle (Matlin & Stang, 1978) ◦ In mehreren verschiedenen Sprachen verwenden Menschen evaluativ positive Wörter häufiger als evaluativ negative Wörter (Boucher & Osgood, 1969) ◦ Menschen verarbeiten positive, angenehme Informationen akkurater und effizienter als unangenehme, negative Informationen ◦ Menschen tendieren zu positiven Urteilen über viele verschiedene Menschen, Ereignisse, Situationen und Objekte. Glaube an eine gerechte Welt (Lerner, 1980) Positive mood offset (Diener et al., 2015): Tendenz, in Abwesenheit starker emotionaler Ereignisse leicht positiver Stimmung zu sein
3. Motiv: Kontrolle
Menschen streben danach, Kontrolle über ihre Umwelt auszuüben (d.h. gewünschte Ereignisse herbeiführen und unerwünschte Ereignisse vermeiden zu können). Ein Mangel an wahrgenommener Kontrolle kann zu schweren sozialen, psychischen und physischen Defiziten führen. Illusion von Kontrolle (Langer, 1975) Unrealistischer Optimismus (Weinstein, 1980) Beispielstudie: Auswirkungen von Kontrollierbarkeit im Altenheim (Langer & Rodin, 1976) ◦ 91 Bewohner eines Altenheims zufällig zwei Bedingungen zugeteilt: ◦ Experimentalgruppe: Text betont Eigenverantwortlichkeit + Möglichkeit sich um Zimmerpflanze zu kümmern ◦ Vergleichsgruppe: Text betont Verantwortlichkeit des Pflegepersonals + Zimmerpflanze Aufgabe des Personals ◦ Ergebnisse: höhere Zufriedenheit, geistige Wachheit, Teilnahme an Aktivitäten (auch bei Fremdbericht), weniger Nutzung von Schlaf- und Schmerztabletten, aktiver, längeres Leben
Zusammenfassung
Motive beeinflussen die Art und den Inhalt der sozialen Informationsverarbeitung („thinking is for doing"; Fiske, 1992). 1. Zugehörigkeit: von anderen Menschen und seiner Gruppe akzeptiert werden („to belong") 2. Verstehen: die Welt verstehen, eine sozial geteilte Interpretation der Welt erreichen („to understand") 3. Kontrolle: Einfluss haben auf Ereignisse, die auch von anderen abhängen („to be effective") 4. Selbsterhöhung: das eigene Selbst positiv sehen („to maintain self-esteem") 5. Vertrauen: in eine freundliche soziale Umwelt vertrauen („to find the world benevolent")
1. Motiv: Zugehörigkeit
Negative Folgen sozialer Ausgrenzung (social ostracism) ◦ Geringes Wohlbefinden, geringe Kontrollwahrnehmung, fehlendes Zugehörigkeitsgefühl Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit ist sehr wichtig für Gesundheit und Wohlbefinden (Baumeister & Leary, 1995). Aschs conformity experiment
4. Motiv: Selbstwerterhöhung
Tendenz, sich selbst in positivem Licht zu sehen Selbstwertdienliche Attributionsasymmetrie (self-serving bias) ◦ Eigene Erfolge werden intern, eigene Misserfolge extern attribuiert. ◦ Beispielstudie: Bernstein, Stephan & Davis (1979) - Attributionen von Studierenden nach Prüfungen Selektive, selbstwertdienliche Informationssuche ◦ Aktive Suche nach selbstwertdienlichen Informationen über die eigene Person ◦ Beispielstudie: Frey (1981) - Feedback zu IQ-Test, dann Auswahl von Artikeln zur Validität von IQ-Tests Weitere Strategien zum Selbstwertschutz und zur Selbstwerterhöhung ◦ Above average effect: Tendenz, die eigene Person als überdurchschnittlich wahrzunehmen ◦ False consensus effect: Überschätzung, inwieweit andere Personen die eigene Meinung teilen
Sherif (1936)
Untersuchte, wie Gruppen individuelles Verhalten darüber beeinflussen, wie die Wirklichkeit wahrgenommen wird. Autokinetischer Effekt: Der autokinetische Effekt ist eine optische Täuschung, bei der kleine fixierte Lichtquellen oder ein kurz dargebotener stationärer Lichtpunkt im Blickfeld in einer sonst dunklen Umgebung als bewegt wahrgenommen wird. Die wahrgenommene Richtung und die Bewegungsweite können dabei stark variieren. (Wikipedia) Versuchspersonen in einem dunklen Raum sollten einschätzen, wie weit sich der Punkt bewegt hat (Schätzungen variierten zwischen 1 und 8 Zoll = 2,5 bis 20 cm). Dann sollten die Schätzungen in der Gruppe der Versuchspersonen kommuniziert werden.
Modelle der Personenwahrnehmung bzw. Eindrucksbildung:
◦ Dual-Process Model of Impression Formation (Brewer, 1988) ◦ Zunächst automatische Identifizierung und Kategorisierung von Personen ◦ Personalisierung bei motivationaler Relevanz und Involviert ◦ Continuum Model of Impression Formation (Fiske & Neuberg, 1990) ◦ Zunächst automatische Kategorisierung aufgrund visueller oder verbaler Hinweisreize ◦ Bei Erwartungsverletzungen: zunächst Subkategorisierung, dann genaue, datenbasierte Informationsverarbeitung