Wilhelm Tell (Interpretation)

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Hobbes und Locke

Basierend auf den Gedanken von Thomas Hobbes und John Locke hatte sich die Vorstellung einer wechselseitigen Beziehung zwischen Herrscher und Volk entwickelt. Das Volk verzichtet freiwillig auf sein Recht zur Selbstbestimmung, der Herrscher verpflichtet sich dafür für Sicherheit, Frieden und Schutz zu sorgen. Falls diese Voraussetzungen nicht erfüllt wurden, hatte das Volk Recht auf Widerstand (Two Treaties of Government, 1690).

Wilhelm Tell - Der Philister?

Bis heute hat Tell verschiedenste Interpretationen und Deutungen erfahren. Es wurde ihm unterstellt, bloss ein grosser Philister und das Stück sei etwas abgeschmackt. Tell habe mehr von einem Kleinbürger als von einem schlichten Landmann. Er habe den Mut des Temperaments und das Bewusstsein körperlicher Kraft, jedoch nicht den Mut des Herzens. Er sein mutig mit dem Arm und furchtsam mit der Zunge, habe eine schnelle Hand und einen langsamen Kopf. Sein Charakter sei Untertänigkeit. Er sei unfähig, für das Allgemeine zu wirken. Er habe nicht den Mut sich zu verschwören (Fehlen beim Rütli-Schwur). Sein "Motto", der Starke ist am mächtigsten allein, sei nur die Philosophie der Schwäche. Bei der Hut-Szene sei es nicht der edle Trotz der Freiheit, der ihn nicht grüssen lässt, sondern lediglich Philisterstolz. Er sei während der Apfelschuss-Szene so demütig, dass man sich seiner schäme.

Rütli-Schwur

Da das ganze Volk Träger der Freiheitsbewegung ist, stellt Schiller in den drei Hauptverschwörern Fürst, Stauffacher und Melchthal die drei Generationen dar. Zudem vertreten sie die drei beteiligten Kantone. Ebenfalls beteiligt sind am Volksaufstand die Frauen. Sie bringen ihn sogar erst in Gang. Beim Rütli-Schwur sind alle Schichten vertreten bis auf den Adel. Dieser ist auch nicht von der Willkür der Vögte betroffen. Die Grundvoraussetzung für das Zustandekommen des Volksaufstandes ist der Entschluss, miteinander zu kommunizieren. Gertrud überredet ihren Mann, sich mit anderen über das Thema zu besprechen. Damit befreit sie ihren Mann aus der passiven Verzweiflung und bewegt ihn zum aktiven Handeln. Gertrud Stauffacher -> Werner Stauffacher -> Walther Fürst -> Arnold Melchthal -> Rütli-Schwur Schiller gibt mit dem Rütli-Schwur ein Gegenspiel zur Pervertierung des Freiheitsstrebens in der Französischen Revolution. Die Männer auf dem Rütli-Schwur handeln demokratisch und besonnen, Standesunterschiede sind aufgehoben: Alle haben dasselbe Stimmrecht. Private Streitigkeiten treten zurück. Sie fühlen sich als Landesgemeinde, die das ganze Volk vertritt statt als Verschwörer. Man will nur die alten Rechte wieder herstellen, keine Revolution. Man will sich dem Herrscher weiterhin unterordnen, lediglich die Willkür der Vögte möchte man beseitigen. Nur notfalls will man Gewalt einsetzen, grundsätzlich soll es jedoch ohne Blutvergiessen vonstattengehen. Der Aufstand ist weniger Revolution als Restauration im positiven Sinne. Kein Schritt nach vorn, sondern rückwärts gewandt. Das Ziel ist die Wiederherstellung der alten Freiheitsrechte. Es zersplittert nicht in Radikale und Gemässigte und entartet nicht wie bei der Französischen Revolution in blutigen Terror. Adlige und Bürger leben am Ende in friedlicher Einheit.

Parricida-Szene

Darin zeigt sich der Unterschied der Taten. Beide haben getötet. Tell wehrt sich jedoch der Gleichstellung ihrer Tat, die Parricida vornehmen will. Die Motive und Folgen der Tat für den Täter geben ihm Recht. Parricida handelte aus niederen Beweggründen und ist jetzt als Ausgestossener mit sich selbst im Unreinen und auf der Flucht. Tell tötete jedoch verabscheute den Mord. Er war ihm von der Weltordnung auferlegt und wurde zu einer ethnischen Pflicht. Er hatte das moralische Recht zur Selbsthilfe und handelte notgedrungen zur Schutz der sozialen Ordnung und zur Notwehr. Dies gibt ihm das Recht von seiner «Unschuld» zu sprechen und lässt ihn in eine ungestörte Harmonie mit sich selbst und den Seinen zurückkehren.

Wilhelm Tell als Bild einer moralisch guten Person

Das Schauspiel ist stark von Schillers negativer Erfahrung mit politischen Tyrannen, der Französischen Revolution und seiner Beschäftigung mit den damals aktuellen Philosophen, besonders Rousseau und Kant, geprägt. Als er jung war, hatte er selbst schlechte Erfahrungen mit der Willkür der Herrschenden gemacht (wurde von Herzog Karl Eugen gedrängt, in die Militärschule zu gehen, 14 Tage Arrest, Flucht). Er klagt die Fürstenwillkür und das moralisch heruntergekommene feudale System an. Schiller sympathisiert zwar mit den Grundgedanken der Französischen Revolution, lehnt jedoch ihre Umsetzung und besonders die jakobinische "Terreur" ab. Im Wilhelm Tell wollte er zeigen, dass es unter bestimmten Umständen auch eine «moralisch gute Revolution» geben kann. Diese Meinung stand im Gegensatz zu der von Kant, der Volksaufstände seit der blutigen Französischen Revolution generell ablehnte. Zwei Grundbedingungen seien - laut Schiller - dass eine Revolution nur der Wiederherstellung einer «sittlich hochstehenden Ordnung» dienen darf und nur im Fall, dass der Herrscher seine Pflichten gegenüber seinen Untertanen verletzt.

Rousseau

Die Grundbedingungen Schillers basieren auf den Vorstellungen des Staatsphilosophen Rousseau, mit dem sich Schiller seit den 80er Jahren beschäftigte. Rousseaus Auffassung war, dass die Menschen bevor sie Staaten gründeten, in einem natürlichen Urzustand lebten und erst durch das Zusammenleben in der Gesellschaft entstanden Negativeigenschaften wie Neid, Habsucht, usw. Schillers Schweizer leben Ursprünglich in besagtem Naturzustand. Das Stück beginnt mit Idylle, in der die Menschen frei im natürlichen Urzustand leben. Diese Idylle wird von der Gewalt und dem Unrecht der Vögte unterbrochen. Schlussendlich leistet das Volk dann Widerstand und schafft eine ideale, nichtfeudale Gesellschaftsordnung.

Chronologie und Örtlichkeiten

Die Handlung im Stück erstreckt sich über wenige Wochen. Schiller hat hier den sich über Jahrzehnte hinziehenden Verlauf der Volksbefreiung der Schweiz bühnenwirksam komprimiert. Handlungsort des Stücks ist der Vierwaldstättersee mit den Urkantonen Uri, Schwyz und Unterwalden.

Selbstbestimmung des Volkes

Die Position des Adels hat sich zum Schluss verändert. Attinghausen hat kurz vor seinem Tod eine Vision, der neuen gesellschaftlichen Struktur. Das Volk bestimmt selbst über sich. Die Entmachtung des Adels läuft hier aber im Gegensatz zur F.R. friedlich ab. Die Adeligen gliedern sich freiwillig als Mitbürger ins Volk ein. Letztlich ist Schillers Idee vom gesellschaftlichen Miteinander Wirklichkeit geworden: Ein Bund von Menschen, der auf der Basis der Werte Liberté, égalité, fraternité basiert. Das Problem, das auf dem Rütli thematisiert wurde - wie vertreibt man die Vögte, besonders Gessler, ohne Gewalt - wurde nie beantwortet.

Entstehung

Es gibt zwei Versionen: 1. Goethe soll nach einem Besuch der Schweiz die Idee dazu gehabt haben, soll das Projekt jedoch aus Zeitmangel an Schiller abgetreten haben. Hierfür gibt es jedoch keine Beweise ausser Goethes Aussage. 2. Gerücht, dass Schiller anfangs 1801 an einem Tell-Drama schreibe. Beide Versionen werden heute in Zweifel gezogen. Tatsache: Schiller hat sich Ende 1801 aus der Weimarer Bibliothek Johannes von Müllers «Geschichte der Schweizer Eidgenossenschaft» und einige Zeit später dann Hallers «Bibliothek der Schweizer Geschichte» und Tschudis «Chronicon Helveticum» ausgeliehen.

Wilhelm Tell - Ein Vorbild?

Im 19. und 20. Jahrhundert wurde Tell überwiegend als gewalttätig handelnder Revolutionär wahrgenommen. Schillers vorsichtig abwägenden philosophischen Überlegungen über Freiheit, Naturrecht und Grenzen von Tyrannei ebenso wie zum Widerstandsrecht blieben weitestgehend auf der Strecke. Es sei also angebracht, sich sehr kritisch mit Wilhelm Tell auseinander zu setzen. Heute in Mitteleuropa genössen wir sehr viele Freiheiten und von Tyrannei könne in unseren Breitengraden nicht kaum die Rede sein. Zwei Sachen dürften und müssten eindeutig klar sein: 1. Es gibt in einem Rechtsstaat klare Spielregeln, auch im Streitfall. 2. Es geht nicht an, dass einer zur Waffe greift und sich selbst Recht verschaffen will, wenn er sich ungerecht behandelt fühlt. Welchen Sinn habe es aber, unseren Kindern von einem Helden wie Tell zu erzählen, wenn dieser in der heutigen Welt gar kein Vorbild mehr sein kann oder gar ein sehr schlechtes?

Haupt- und Nebenhandlung

In Schillers Stück gibt es zwei Haupthandlungen, von denen jede eine Nebenhandlung hat. 1. Haupthandlung: Geschichte des Aufstandes der Schweizer Kantone Uri, Schwyz und Unterwalden («Volkshandlung»). Sie ist historisch sehr zutreffend geschildert, jedoch verkürzt er die über mehrere Jahre dauernden Ereignisse auf wenige Wochen. 1. Nebenhandlung: Handlungsstrang um Bertha von Bruneck und Ulrich von Rudenz. Neben ihrer Liebesgeschichte geht es vor allem um den Wiederanschluss von Rudenz an seine Landsleute. Dies geschieht durch Berthas Einfluss. Haupt- und Nebenhandlung verschmelzen später miteinander, als Rudenz sich nach dem Tod seines Onkels zu den Aufständischen bekennt. 2. Haupthandlung: Die sogenannte «Tell-Handlung». Schiller greift hier auf die ahistorische Tell-Legende zurück und legt grossen Wert auf diese Figur. 2. Nebenhandlung: Die sogenannte «Parricida-Handlung». Pariccida bildet quasi die «negative Parallelfigur» zu Tell. Beide haben getötet, Pariccida einen Verwandten aus eigennützigen Gründen, Tell hingegen einen Tyrannen aus Notwehr. Parricida war ihm sehr wichtig. Er sei der Schlussstein des Ganzen. Durch ihn allein wird Tells Mordtat moralisch und poetisch aufgelöst.

Quellen

Mit Wilhelm Tell gelang ihm eine geglückte Synthese zwischen historisch-politischem und poetischem Drama. Die beiden Handlungsstränge Schweizer Volksaufstand gegen die Habsburger Vögte und die Selbsthilfeaktion Tells hat Schiller aus Tschudis Chronik übernommen. Auch die Tötung durch Baumgartner und die Geschichte der Blendung des Vaters von Melchthal übernahm er von Tschudi. Die Handlung um Rudenz und Bertha ist jedoch Schillers eigene Schöpfung. Schiller spielt auf die aktuelle politische Situation an: Die Schweiz, die als Land der republikanischen Freiheit galt, war von Napoleon 1798 besetzt worden. Die Schweiz wurde somit französisches Protektorat. Die alte Eidgenossenschaft hatte somit (offiziell) aufgehört zu existieren. Am 18. Februar 1804 hält Schiller den Abschluss des Schauspiels in seinem Kalender fest: «Den Tell beendigt».

Wilhelm Tell - Der Selbsthelfer und die politische Realität

Mit dem dritten Aufzug beginnt die zweite Haupthandlung, die Tell-Handlung. Schiller lässt Tell beim Rütli-Schwur, entgegen seiner Quellen, bewusst nicht dabei sein. Tell lehnt Stauffachers Aufforderung, gemeinsam gegen die Vögte vorzugehen, ab. Ganz der Selbsthelfer. Tell sind politische Kalkulationen und Planung fremd. Er repräsentiert den "naiv-idyllischen Naturzustand" des Menschen, der hilfsbereit und auf seine eigene Stärke und Gott vertrauend seine Eigenständigkeit bewahren will. Die aktuelle politische Situation kann er nicht erfassen. Er ist blind gegenüber dem Unerhörten und Neuem und der geschichtlich-destruktiven Gewalt. Tell gelingt es jedoch nicht, sich aus dem politischen Geschehen herauszuhalten. Während der berühmten Apfelschussszene verändert sich Tell. Das er, der Vater von Gessler dazu gezwungen wird, mit grosser Wahrscheinlichkeit der Mörder seines Kindes zu werden reisst ihn aus seinem Naturzustand. Die Alternative der Selbstopferung wird ihm vom perfiden Gessler verwehrt. Tell wird mit dieser Tat im Grunde seines Wesens - nicht nur in seiner Väterlichkeit, sondern auch in seiner Menschlichkeit schlechthin - geschändet. Der Entschluss Gessler zu töten, erwächst aus diesem Ereignis.

Wilhelm Tell - Ein Terrorist?

Samuel Schwarz, der 2006 am Theater St. Gallen seine Adaption von Schillers Wilhelm Tell inszenierte habe es geschafft, die Fragen zu wecken: Ist Gewalt ein legitimes Mittel der Befreiung? Ist Tell ein Terrorist? Ist Tell ein Leibacher (Zuger Amokläufer, 2001)? Ist er ein schlechter Mensch? Ist Samuel Schwarz ein guter Regisseur?

Blankvers

Schiller hält sich in diesem Stück weitgehend an diese Vorgaben, benutz jedoch den Blankvers zu künstlerischen Zwecken seines Dramas. Man findet im Tell Enjambements und durch Zäsuren mehrfach geteilte Verszeilen. So gelingt es Schiller, Stimmungen und Gefühle unterschiedlich darzustellen. Schillers Sprache verleiht diesem Stück das mächtige Pathos der Freiheitsliebe.

Initialzündung des Volksaufstandes

Tell gab mit seiner Tat den Startschuss für den erfolgreichen Volksaufstand. Indem Tell die Schuld auf sich genommen hat, können die Eidgenossen von derselbigen verschont. Sie können so ohne Blutschuld ihr neues Staatswesen erbauen. Seine isolierte Freiheit hat Tell mit dieser Tat jedoch aufgegeben und ist Teil der Gemeinschaft geworden. So laufen am Ende die beiden Haupthandlungen ineinander und bilden ein neues Ganzes.

Tell-Monolog

Tell wird sich dabei seiner inneren Situation klar. Es geht ihm um die Freiheit und Verantwortung vor sich selbst, um das Problem seiner eigenen Existenz zu seiner Tat.

Klassische Kunstsprache

Wilhelm Tell ist eines der Hauptwerke der sogenannten «Weimarer Klassik». Autoren dieser Epochen hatten den Anspruch, dass ihre Werke in Inhalt und Form übereinstimmen. Das hiess, dass man erhabene Ideen nur an herausragenden Persönlichkeiten aus Geschichte und Mythologie sowie an ihrem aussergewöhnlichen Schicksal darstellen sollte. Umgesetzt konnte dies nur im Drama als höchster und ältester literarischer Form. Auch die Sprache musste dem Inhalt angepasst werden. Die Sprache der Weimarer Klassik entwickelte sich nicht aus der Gesellschaft, sondern ist eine von den Autoren geschaffene Form. Die Personen sprechen rhythmisiert und sentenzenhaftz.

Dramenaufbau

Wilhelm Tell ist fünfaktiges Schauspiel, das sich weitgehend an die klassische Bauform hält. Auffallend ist, dass je ein Akt in wenige Szenen unterteilt ist. Die einzelnen Szenen bekommen dadurch mehr Gewicht. Schiller wollte Wilhelm Tell als «Volksstück» schreiben und baute deshalb mehrere, wohl an Shakespeare orientierte Volksszenen ein. In dieselbe Richtung gehen die Verwendung von Musik. So erhält das Stück bewusst einen Festspielcharakter.


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